Freitag, 5. Mai 2017

Erzähle mir von deinem Leben!

Jemand sagte mal zu mir, erzähle mir von deinem Leben,
aber nicht den „typischen Lebenslaufteil“, sondern den privaten Teil, den keiner kennt, das, was du erlebt hast, was nirgendswo geschrieben steht.

Und ich sah die Person an und wusste nicht, was erzähle ich? Ist es der Lebenslauf, der mich ausmacht? Was bleibt, ohne dies zu erwähnen!? Was gibt es über mich zu erzählen? fragte ich und schaute sie an…

„Erzähle mir einfach von deinem Leben“

 „Was gibt es da zu erzählen? Ich habe versucht zu leben…eins aufzubauen, weiter zu kommen, zu lernen, um nicht stehen zu bleiben,  ich wollte so viel sehen und erleben…

ich habe gedacht, ich muss mehr wissen, damit mir weniger passiert, passieren kann…

ich wollte frei sein, vom inneren zerrissen sein, zwischen Wahrheit und Verstand“ ich stockte…
 das war mir bis gerade eben noch nie so klar gewesen und ich fuhr fort: „Ich hatte immer Sehnsucht nach Leben und normal sein, wie andere leben können…Und ich wollte nicht wie meine „Mutter“ sein, eine Hure, die ihre Kinder missachtet, misshandelt und verkauft, damit es ihr selber gut geht, sie schön in Gold gebettet ist, dabei aber immer ihre Kinder total vergisst, die zu Hause waren, Hunger hatten, Kleidung und Hilfe und  Anleitung und eigentlich so viel Liebe zum Leben sowie eine Mutter brauchten, weil die unsere keine war! Immer nach außen aufs Schön-sein aus und sich selber jeden Vorteil verschafft: ein Narzisst wie er im Buche steht, immer nur auf sich bedacht!“ Ich stand auf und lehnte mich an die Wand und schaute sie weiterhin an, so genau darüber nachzudenken, strengt an und ich konnte nicht mehr still sitzen.

„Ich höre zu, erzähle weiter!“
Ich nickte, trank etwas und sagte: „Ich wollte frei sein, von den komischen Erinnerungen an ein „zu Hause“, was nie so war, warm war es nur bei Oma und Opa, wofür ich so unendlich dankbar war und bin – ich habe mir eine Familie gewünscht, nahm Abstand von meiner, verabschiedete mich von Tabus und Unfreiheit, sagte die Wahrheit, verabschiedete mich von Liebe, wenn es meiner inneren Freiheit und meiner Vorstellung von einer freien Liebe nicht entsprach, auch wenn ich noch so liebte

 – ich erzog meine Kinder, erkannte an ihnen, wie es ist, Kind zu sein, aufzuwachsen ohne Angst vor physischer und psychischer Gewalt, immer mit Angst gepaart, auf Überleben abgestimmt…sie konnten lachen, alles erzählen, sich entwickeln (das zu sehen, war und ist so schön!), waren frei und jeder von ihnen entfaltete sich zu dem schönsten Schmetterling! Sie sind das Beste in meinem Leben! Und wenn ich vielleicht nichts mehr weiß, ABER eins weiß ich ganz genau: sie sind von allem Negativen völlig frei, haben keine Angst zu leben!“

Mir liefen Tränen herunter und ich lachte verlegen, „Entschuldige“, sagte ich und sie nahm mich nur in den Arm, drückte mich fest und gab mir ein Taschentuch, eins behielt sie für sich, ihre Augen weinten auch… „ich bin so froh darüber“, sagte ich und schaute sie an. „Ich kann dir von mir nicht so viel erzählen, weil ich nichts mehr weiß, ich erinnere mich an Schuljahre…und an wenige Szenen im privaten Bereich, das waren und sind aber keine schönen, nur wenige schöne sind dabei…etwas, wie ich auf dem Schiff vorne am Bug sitze, das Schiff vom Wind ganz leicht dahin geschubst wird, das Wasser zerteilt, die Gischt und der Wind mir bis ins Gesicht spritzte, jede Welle mitnahm und mir zeigte, wie schön es sein kann, zu fliegen… ich ließ mich da treiben, träumte von einem besseren Leben, von endlich 18 und erwachsen sein!
Wollte nur weg, alleine und frei von diesem ganzen Druck und endlich mal ohne Angst sein...die kannte ich schon seit so langer Zeit, war ein Teil von mir, bestimmte mein damaliges Leben: 10 Jahre wurden mir geklaut, die fehlen mir im Leben, Zeit und Entwicklung und Erinnerung verbaut, durch die gewaltvollen Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch und den Vergewaltigungen in meinem Leben! Irgendwann erkannte ich, ein Wegrennen gibt es davon nicht, sie sind ein ständiger Begleiter in meinem Leben, jahrelang nur in einem Bereich geparkt, den ich nicht berührte, erinnerte nichts, spürte aber auch mich eigentlich nicht…kam an nichts richtig dran. Dann 2007 roch ich ARAMIS, ein Eau de Toilette…und es traf mich in der Dortmunder City, mit dem Baseballschläger direkt auf dem Kopf, ich versank, wurde klein und hatte wieder Angst, Panik – ich war stumm, schaute rum, erkannte nichts, auch nicht mehr mich – dies verhinderte dann wieder das Leben…seitdem Erinnerungsschübe, Krankheiten, physische und psychische Reaktionen, diagnoselose Schmerzen und schlaflose Nächte, wie seit immer schon. Schlafen, mal ganz in Ruhe und ausgeruht…kenne ich nicht und wäre mal wirklich schön!“

Sie nahm meine Hand, drückte sie und ich setze mich wieder…

 „Weißt du, Ruhe und Frieden gibt es irgendwie nicht, wenn man mit solchen Erinnerungen lebt, die einem Jahre später noch die Panik und die Angst eintreiben, die so wohl bekannt ist, fast wie ein Vater ist, immer mit allem erkannt und vor allem, überraschend wieder da ist, immer wieder als solche erkannt! Er nimmt meine Hand und führt mich wieder auf alte Wege, meist, wenn ich mal etwas schlafen kann…und zeigt mir, was ich nicht mehr weiß, zeigt mir, wie es war und ich betrachte mich aus einer Entfernung, die nicht sicher ist…bin dann wieder da und bin dann wieder ich, in einer alten Zeit, die niemals sicher war, ich nicht geschützt und beachtet war, außer ich wurde gebraucht, um fremde Befriedigung auszulösen, in jeder Hinsicht dem Leben entraubt! Wie ein Schatten lauert es oftmals in jeder Ecke, alles kann ein Auslöser sein, immer bereit zum Sprung, um mich zu packen, mir zu zeigen, du bist nicht frei: ICH BIN DEINE ERINNERUNG!

…so lebe ich, das bin ich und eine Umgehensweise erlerne ich, irgendwie und immer wieder neu! Eine Anleitung gibt es dafür leider nicht!“ Ich musste lachen… „Wenn Betroffene einfach offener reden würden, ohne Scham vor dem, was ihnen passiert ist, gäbe es einen Weg auch für andere. Aber dieses Tabu..
“ ich schüttelte den Kopf und erzählte weiter: „NUN versuche ich zu leben, mit dem Wissen, dass alles wahr ist, meiner Wahrnehmung von damals, die der Wahrheit entspricht, nicht mehr beraubt und einfach ehrlich ist, ich einfach so bin wie ich bin, auch ohne Kindheit und Jugend. Die damaligen Beeinträchtigungen bestimmten heute mein physisches und psychisches Leben, dem musste ich mich stellen, das fiel mir schwer, ich wollte mich  niemand mehr unterordnen – auch nicht mir selber! Ich versuche Ruhe zu leben, Frieden zu spüren, mich kennen zu lernen, Bedürfnisse zu fühlen, das Leben mal zu genießen…es fällt mir oftmals noch schwer, ich werde aber besser darin, einfach nur zu leben.

Mittlerweile kann ich das, Auszeiten nehmen und genießen, kann zur Ruhe kommen, fühle mich nicht mehr gehetzt, sondern immer mehr angekommen und ich erkenne immer mehr einen Weg, obwohl ich nicht weiß, ob dies meiner ist.“ Ich grinste sie an. „Aber ich denke, solange ich authentisch bin, ehrlich zu mir selber und weiter versuche meine Grenzen zu fühlen, wird es gehen. Ich muss halt ganz von vorne anfangen, wieder Vorstellungen entwickeln von dem, was ich will, kann…und ich brauche zurzeit einfach immer noch und immer wieder Ruhe und Zeit auszuruhen, bei mir zu sein, um nicht wieder zurück in Erschöpfung zu kommen. Zu entschleunigen und sein Leben quasi wieder auf „Anfang“ zu stellen, ist schwer und wie es weiter geht ..weiß ich so gerade nicht. Irgendwie geht es nur von Tag zu Tag… MEHR weiß ich gerade nicht zu erzählen“ …

Ich setze mich anders hin, schaute sie an und sie sagte:“ Mel, danke dir, es ist schön zu wissen, dass ich dich nun so kenne, wie kaum jemand.

Soll ich dir von mir erzählen?“ Ich nickte, schüttete uns noch Wasser ein und sagte:“Sehr gerne. Ich will dich auch kennen lernen.“

Und sie begann zu erzählen...

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