Sonntag, 24. März 2019

Warum hast du nichts gesagt?


Warum hast du nichts gesagt?

Positives im Leben zu integrieren und auch „erlauben“ zu können nach Erlebnissen, die nur ein „überleben“ sichern, ist schwer.
Negatives Umgehen von anderen zu erfahren oder auch schlechte Nachrichten zu erhalten, zu verarbeiten, damit zu leben, ist eine Gewohnheit geworden, die „zum Leben“ gehört – einfach irgendwie verinnerlicht wurde.
Zu viele schlechte Gewohnheiten zu erfahren, nichts Gutes zu erleben und keine „normale“ Liebe ohne Forderungen erfahren zu dürfen, war „normal“ – gehörte zum Leben und wurde so sehr im Leben integriert, dass die Vorstellung positives zu erfahren und zu erleben einfach kaum vorstellbar war – teilweise immer noch ist.
Wie soll positives erlebt werden, wenn es niemals erfahren werden durfte? Wie sollte ein „normaler“ Lebensumgang erfahren und gelebt werden, wenn das „Unnormale normal war“? Lebenslange negative Konditionierungen und „immer auf alles vorbereitet gewesen zu sein“ --- auf Stimmungen, Gemütslagen, Aggressionen ---  erfordert so viel Konzentration und Lebenskraft, dass irgendwann ein Limit erreicht wird – spätestens dann, wenn man erwachsen ist und selber leben leben muss und merkt, wie scheiße doch alles früher war und in keinster Weise mit dem übereinstimmt, was so „ zu Hause“ war…
dass nichts von dem, was man erlebt und erfahren und auch gelernt hat dem entspricht, wie Leben ist… wie Familie ist oder sein sollte…wie man selber ist.
Alles muss in Frage gestellt werden, das eigene Erleben, die eigene Wahrnehmung, das eigene „sein“ – ein neues Zeitalter des Fühlens, des Verstehens beginnt und man zerbröselt sich und alles was man kennt in atomähnliche Einzelheiten, schlüsselt sie neu auf mit dem, was man als Erwachsener erlebt, erfahren h at und stellt diese alten Lebenserfahrungen als Kind und Jugendlicher dann in einen neuen Rahmen, der aufgeteilt wird zwischen „Gut und Böse“, „Recht und Unrecht“ und wenn man das über Jahre gemacht hat – weil es einfach Zeit braucht, das alles zu verstehen – wird einem die falsche Realität bewusst, in der man aufgewachsen ist.
Das Erleben und dann das Aufteilen in diese verschiedenen Rahmen verbessert die persönliche Sichtweise auf das große Ganze, welches das eigene Leben war, das eigene Empfinden. Und plötzlich wird einem klar, dass all das Erlebte, nicht in diesen „Unrechtsrahmen“, in diesen „bösen Rahmen“ passen wird, weil es einfach unbegreiflich ist - und viel zu viel, um zu verstehen, dass dies einfach falsch war!
Das Begreifen von Tatsachen, die einfach unwahrscheinlich sind, sind für einen Geist eines Kindes kaum zu erfassen, weswegen dies alles so fein und gründlich abgespalten wird, dass das Leben an sich weiter gehen kann – man sich nicht das Leben nimmt, weil man es nicht mehr aushält, sondern einfach weiter macht.
Man denkt, wenn ich 18 bin, dann, endlich, dann ziehe ich aus – gehe weg von hier, verlasse dieses Haus, in dem ich nicht atmen kann und endlich frei bin von all dem, was mich festhält, nicht leben lässt...

Warum hast du nichts gesagt?
…wurde ich so oft gefragt, zu Beginn, als ich gesagt habe, dass ich missbraucht wurde, auch heute noch – obwohl mir das Ausmaß dessen in keinster Weise bewusst war.
Ich wusste nur, er hat mich angefasst, in eine Weise, die kein Mann ein Mädchen berühren durfte – niemals!
Ich wusste, wenn ich was sage, hat er mir gedroht, dass man mich nicht mehr lieben würde, ich abgeschoben werden würde, in ein Internat, in ein Heim, wo ich dann hingehöre, weil ich unser Geheimnis verraten habe, welches nur uns gehört!
Warum hast du nichts gesagt?
wurde ich gefragt und ich finde keine Worte für diese Dinge, die mir angetan wurden, die keiner sah!
Ich weiß nur, dass ich mich so geschämt habe, für das Erlebte, mich so schuldig fühlte, …weil, wenn ich was gesagt hätte, ich die Familie auseinanderbringen würde, hat er mir gesagt, sollte ich auch „nur einen Ton sagen“! Dies ist unser Geheimnis, meins und deins, hat er gesagt und was ich mit dir mache, geht niemanden was an.
Da war ich sieben. Und acht. Und neun, Und elf und dreizehn, und dann fing es richtig an…
Warum habe ich nichts gesagt?
Weil ich gedacht habe, dies alles passiert nur, weil ich nicht lieb bin – nicht so wie mein Bruder, der immer geliebt wurde und gefördert und mir immer angepriesen wurde, wie toll er doch ist. Dabei liebte ich meinen Bruder – er war der Grund, warum ich nicht wieder weggelaufen bin, weil ich gedacht habe, ich muss auf ihn aufpassen…Also strengte ich mich an, lieb zu sein, machte das, was mir befohlen wurde, immer mit der Androhung von ihr, „tu das, sonst schlage ich sich tot“ – und so gab ich ihm den ersten ´Gute Nacht Kuss´, der mir aufgezwungen wurde von ihr, meiner „Mutter“, die auf mich Acht geben sollte, deren Aufgabe es als Mutter war, ihr Kind zu schützen! Ich war sieben.
Warum habe ich nichts gesagt? als ich mit dem Bügel oder dem Stock oder dem Schlappen oder dem Kochlöffel verhauen wurde, weil ich eine fünf geschrieben habe, ich nicht in der Schule aufgepasst habe, meine Hausaufgaben nicht wusste oder die Aufgaben selber nicht verstand oder mal wieder nicht das gemacht habe, war gewollt wurde von mir?
Warum hast du nichts gesagt?
Was sollte ich den sagen…? Wie konnte ich den begreifen, was da mit mir passierte, mit mir gemacht wurde, als Kind?
Wenn ein erwachsener Mann nachts in dein Bett kommt, mit sieben und neun und elf und auch dreizehn und fünfzehn, und auch siebzehn und alle diese ganzen langen Jahre dazwischen, … und dich an Stellen berührt, an denen du dich noch nicht einmal selber berührt hast, weil du als Kind gar nicht so weit warst, so berührt zu werden und erst recht nicht, von einem Erwachsenen. Wie soll man Worte finden für Taten, die so unaussprechlich, unbegreiflich sind  - UND dann auch noch als Kind?
Was hätte ich den sagen sollen, was mich nicht selber bereits so stumm gemacht hat?
Ich verstummte, weil ich nicht weiterwusste, ich verstummte, weil die, die mir helfen sollten, es nicht getan haben. Mein Vater, meine Mutter, meine restliche Familie. Die sahen alle, wie sehr ich mich veränderte, aus dem lustigen Mädchen ein anderes wurde, einsam war, mit diesen oftmals blauen Flecken und sich vor Angst duckte, wenn er laut wurde oder eine Ohrfeige das Mädchen traf!
WARUM HAST DU BITTE NICHTS GESAGT? Du warst erwachsen, ich war ein Kind, welches einfach nur Hilfe bedurfte – ich war ein Kind, unschuldig und hilflos, alleine dieser Gewalt zu Hause ausgesetzt, welches keines war – und es war so offensichtlich für jeden! Rückblickend erinnere ich mich an so viele Begebenheiten, die Ohrfeige oder das Tätscheln meines Hinterns im Beisein von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn. Alle sahen zu, schauten weg, betreten, verlegen, voller Scham und möglicherweise auch voller Hilflosigkeit!
Dies soll keine Anklage sein, nur eine Hilfestellung für alle, die fragen:
WARUM HAST DU NICHTS GESAGT?

ABER, ich sage jetzt was! Nämlich folgendes: ich wurde missbraucht, misshandelt, vergewaltigt, auf vielfältige Art und Weise und ich habe dadurch sehr gelitten, psychisch vor allem.
Die Folgen dessen sind individuell und vielfältig, aber die schlimmste Folgte dessen ist das Gefühl, es nicht wert zu sein. „Wertvoll“ und es „wert zu sein“ für diejenigen, die das Mädchen hätten schützen müssen, das Mädchen, welches ich damals war.
Sich verlassen zu fühlen von denen, die man am meisten liebt hinterlässt ein Gefühl von Leere, alleine sein und ausgeschlossen fühlen aus diesem einem Familiensystem, was man kennt, was man so liebt, so braucht, aber niemand für dich einsteht – und trotzdem läuft man dem Gefühl hinter her, geliebt werden zu wollen, als Kind zuerst. Dann als Jugendliche und beginnt sich an Typen zu hängen, die ebenfalls nicht gut sind – altbekannte Rollen erheben sich zu einem wichtigen Punkt im Leben und man „erkennt“, das kenne ich und tut mir gut, bis man merkt, genau das ist es nämlich nicht!
Bekannte Muster werden zu Kreisläufen und plötzlich wiederholt man einige Dinge, die man schon als Kind kannte, sich nicht gegen wehren konnte – immer noch nicht kann! Eingefangen in ein Netz aus Altbekannten – wieder gefangen in etwas, was man nicht will, aber gut kennt und weiterhin in diesen Mustern Liebe sucht – aber niemals findet!
Irgendwann kommt dann ein Punkt, in dem es nicht mehr weiter geht, man nicht nur sich selber erkennt, sondern auch diese Muster durchschaut, die sich durchs Leben ziehen und dann gibt es zwei Möglichkeiten: man macht so weiter wie bisher, weil man weiß, man ist es „nicht wert“…
oder man erkennt, das geht so nicht, das will ich für mein Leben nicht und erst recht will ich das nicht, für meine Kinder! Und dann erfolgt der Ausbruch aus diesem ganzen alten Scheiß System, dem „weggehen“ von allem, was man kennt, vor allem vor der eigenen Familie, weil – warum hast du nichts gesagt? eine Schuldverschiebung hinterlässt, eine plötzlich und irgendwie zugewiesene Schuld an dem eigenen erlebten Missbrauch, die für den Betroffenen sehr negativ schmeckt und auch Fassungslosigkeit hinterläßt… und eine Art Ablassbrief für den Fragenden ist, sich so rein wäscht und einfach die eigene Schuld weiter gibt.

Es gibt nur eine Lösung dieser Schuld und dieser Scham zu entgehen, in denen man sie in Frage stellt, warum fühle ich so, warum ist es so und was kann ich dagegen tun: den niemand ist schuld daran, missbraucht und vergewaltigt worden zu sein!
Kreisläufe zu durchbrechen und sein Leben in die Hand zu nehmen, offen und frei zu sein und mit der eigenen erlebten Scheiße leben erfordert vor allem eines: diese ganze Scheiße zu erkennen und zu sagen, ok – dies ist „meins“, ist irgendwie ein Teil von mir  – aber ich verändere daran was, weil ich leben will, weil ich keinerlei dieser Dinge weiter geben will! Und ich versuche, Stück für Stück, mit Zeit, die ich mir selber gebe, weiter zu gehen in ein Leben, welches mir fremd ist, ich mir selber beibringe, „wert-voll“ zu sein, für mich zu sorgen, das Leben irgendwie neu erfinden muss, um altes altes sein zu lassen und Neues zu schaffen, es in das Leben hin ein zu lassen, um sich von allem zu lösen, was hinderlich für die eigene Entwicklung ist, weil gerade und speziell diese, so überaus wichtig beim Überleben ist.

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